In bester Tradition eines meine Lieblingsbücher, nämlich des Handbuch des Verhörens, dachte ich jahrelang ernsthaft, der Claim der Bildzeitung laute "Bild! Dir Deine Meinung", also: Hier finden Sie Ihre Meinung. Ich fand den Claim weder überraschend noch verwirrend, sondern einfach passend, was viel über meine Erwartungshaltung dieser Zeitung gegenüber aussagt.
Wenn ich jetzt den aktuellen Wahlkampf betiteln müsste, so würde mein Vorschlag für ein Motto wahrscheinlich lauten: "Wähl! Dir Deine Meinung", soll heissen: alle politischen Kombattanten versuchen mit der größten Volksnähe im Hinblick auf das für sie als relevant eingestufte Teilvolk zu punkten.
Auch dies sagt eine Menge über meine Erwartungshaltung gegenüber dem politischen System aus: in der aktuell ausgeprägten Organisations- und Kommunikationsform geht es im Wahlkampf schlicht und einfach um Verkaufe, Werbung und Vertriebsstrebertum. Politiker reisen wie Marktforscher oder Business Developer durch's Land, hören auch zu, tun dies aber eben nicht, um gemeinsam mit den Befragten eine Lösung zu entwickeln, sondern um den "kleinsten konsensfähigen Nenner" zu finden und ihn so schnell wie möglich den Betroffenen zurückzuspiegeln. (Letztlich auch nichts anderes als eine psychologische Methode, die vielleicht Empahie benötigt, aber eben nicht unbedingt Intelligenz.) Was "Deutschlands größter Stakeholder Dialog" sein könnte, wird damit zum ritualisierten Psycho-Spot.
Letztlich sind die Wahlen also schon strukturell gesehen "lost opportunities". Vielleicht ist diese Meinung aber auch in meiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber Abstimmungen begründet: man kann meines Erachtens gute Lösungen nicht er-abstimmen sondern nur er-arbeiten. Ein wenig basisdemokratisches Reengineering unserer politischen Struktur nach dem Schweizer Modell könnte jedenfalls nicht schaden. Dort finden Stakeholder-Dialoge jederzeit und außerparteilich statt.
